Der Obsteiger Dorfchronist Hubert Stecher stellt Beiträge über unseren Heimatort Obsteig auf ObsteigAktuell für alle Interessierten ins Netz. |
„Präzise Technik von früher – heute wertvoll“.
Technik ist für uns gleichbedeutend mit Dingen wie Hydraulik, Elektrik, verschiedenen elektronischen Steuerungs- und Antriebssystemen, Triebwerken und Ähnlichem. Laser, Funk und weltweite Kommunikation sind alltäglich. Staunend stehen wir jedoch heute vor manchen Werken der Präzision und Kunstfertigkeit, die uns schon frühere Generationen hinterlassen haben.Wie kommt es, dass am Bach ein großes Holzrad sich dreht, und durch verschiedene genau aufeinander abgestimmte Hebel-, Dreh- und Rüttelbewegungen entsteht schließlich aus Korn schneeweißes Mehl für köstliches Brot. Und diese Mechanik ganz aus Holzteilen haben vor hunderten von Jahren einfache Menschen mit Hacke und Säge und Stemmeisen geschafft. Heute versucht man wieder, solche Mühlen herzustellen.
Vor 150 Jahren hat ein einfacher Tischler aus Partschins bei Meran (Mitterhofer) händisch ein „Werkl“ zusammengebaut, das mittels Tastendruck Buchstaben auf eine Walze schlägt: die Schreibmaschine. Vor 200 Jahren gelang es einem Kufsteiner (Madersperger), eine Maschine zu bauen, die das Handnähen erübrigt, die Nähmaschine. Beide Männer starben verkannt und arm.
Nichts von dem haben wir in Obsteig aufzuweisen. Die Klammer Mühle (erbaut ca. 1690) steht ja nicht mehr. Und doch möchte ich auf zwei Kleinigkeiten – „gering und kaum nennenswert“ – hinweisen, die es in dieser Art kaum mehr an anderen Orten gibt.
Da ist zum Einen die alte, geschmiedete, kunstvoll gefertigte Turmuhr, die schon lange keine praktische Bedeutung mehr hat. Sie steht „unnütz“ im dritten Stock des Turms. Und doch wären uns viele darum neidig. Es ist nämlich eine „Jäger-Uhr“.
Im Paznauner Dorf Kappl gab es im 19. Jahrhundert die Familie Jäger, die sich auf die Erzeugung von Großuhren konzentrierte und weitum berühmt wurde. Die Nachkommen nennt man dort heute noch die „Uhrner“. Der Landecker Bezirkschronist hat es sich vor Jahren zur Aufgabe gemacht, der Familie Jäger und ihren Uhren nachzuforschen.
Nachdem die Elektrifizierung der Turmuhren eingesetzt hatte, warf man die alten mechanischen Zeitmesser vielfach weg oder verkaufte sie zum Kilopreis den Alteisenhändlern. So gibt es von diesen Werken in Tirol nur noch wenige, eines davon steht heute noch in einem Turm des Innsbrucker Domes.
Die Obsteiger Turmuhr ist zwar wesentlich einfacher als die reich verzierte des Innsbrucker Domes, doch eine bewundernswerte und präzise Schmiedearbeit. Die großen Zahnräder und anderen Kraftübertragungen mussten millimetergenau ineinandergreifen. Angetrieben wurde sie mit zwei schweren Gewichten. Das waren Holzkübel, gefüllt mit genau berechneten Steinen und an zwei starken Seilen hängend. Ein meterlanges Pendel schwang hin und her.Wie bei einer Stubenuhr musste man das Werk regelmäßig aufziehen, das geschah mit einer gewaltigen Kurbel. Auf dem Uhrwerk steht ein kleines Zifferblatt mit der Aufschrift „Gebr. Jäger Kappl 1899“. Durch entsprechende Zahnräder wurde die Verkündigung der Zeit an alle vier Turmseiten übertragen und durch Seilzug der Stundenschlag gesteuert.
Mittels einer langen Zahnstange wurde die Zeitmessung auf ein Zifferblatt in der Sakristei übertragen, so dass man auch hier auf die Uhr schauen konnte.
Der Uhr selbst schlug im Oktober 1961 die letzte Stunde. Um 32.477 Schilling lieferte die Fa. Siemens eine elektrische Nachfolgerin. 5000 Deutsche Mark spendierte die Familie Hünnebeck, den Rest die Gemeinde. Um 1.500 Schilling malte Alois Soraperra die Zifferblätter.
Kein Ticken mehr, kein Rasseln oder Knattern ist im Turm zu hören. 62 Jahre lang hat die Uhr ihren Dienst gewissenhaft erfüllt und nun steht sie still. Wie alle Denkmäler. Sie sollte für uns ein geachtetes Denkmal bleiben.
Zum Zweiten:
Jeder kennt die kleine Hütte gegenüber der Gemeinde beim Plattnerhof, die knapp an der Straße steht. Tausende gehen und fahren täglich vorbei, man würdigt sie keines Blickes.
Manche werden sich vielleicht darüber Gedanken gemacht haben, was das kleine betonierte Geviert davor – eingerahmt durch ein Eisenband – vor dem Häuschen bedeutet. „C. Schember u. Söhne, Wien-Atzgersdorf“ lautet eine Inschrift darauf. Das Häuschen hat auch ein kleines Fenster zur Straße hin, das bis vor kurzem immer mit Blumen geschmückt war.
Dass sich hinter all dem eine hochempfindliche mechanische Waage versteckt, verrät das Äußere nicht. Etwas Derartiges sieht man in dieser Form kaum mehr.
Man kann z.B. mit einem Hänger voll Kartoffeln oder einer anderen Last auf das Geviert fahren. Dadurch wird dieses belastet und das Gewicht über ein Gestänge zu einem Waagebalken im Inneren der Hütte übertragen. Durch das Verschieben eines Laufgewichts am Balken kann man die Schwere der Belastung haargenau feststellen. Die Obsteiger Brückenwaage maß bei einer Tonne auf wenige Dekagramm bis ½ kg genau.
Selbst erlebt! Mit einer Schulklasse zur Brückenwaage zu gehen, war immer nett. Helma Plattner wog einmal die Klasse mitsamt dem Lehrer (= brutto ca. 720kg, je nach Kinderzahl),dann ohne Lehrer (=netto, etwa 650 kg) und dann den Lehrer allein ( = tara, 70 kg). Um die Genauigkeit noch weiter zu prüfen, wurde der Lehrer einmal mit und einmal ohne Winterjacke gewogen, den Unterschied registrierte die Waage genau. Helma druckte uns dann die Waagkarten aus.
Brutto- ,Netto- und Taragewicht wurden auf der Waagkarte vermerkt und bestätigt. Die zu entrichtende Wiegegebühr betrug allgemein zuletzt 15.- Schilling. Die Waage hatte früher bei Einheimischen und auch bei Auswärtigen sehr regen Zuspruch.
Regelmäßig musste die Genauigkeit des Gerätes vom Eich- und Vermessungsamt Imst überprüft werden, wofür Gebühren zu entrichten waren.
Die Erhaltung der Hütte, die Eichgebühr und die Wartung der Waage selbst waren später nicht mehr rentabel, da es inzwischen auch elektronische Geräte gab und die Waage nur mehr wenig Kundschaft hatte. Man ließ sie schließlich auf.
Besitzer des Platzes ist die Agrargemeinschaft Hauptfraktion Obsteig, das Gerät gehört aber einer Gemeinschaft von elf Interessenten, die es vor vielen Jahrzehnten gekauft haben. Derzeit beginnt alles leider langsam zu verfallen, wäre aber im jetzigen Zustand noch leicht zu retten. Es ginge dabei nicht darum, die Waage wieder aufs Neue in Betrieb zu setzen, sondern den Ist-Stand zu sichern. Denn sie ist wegen ihrer Einzigartigkeit ein technisches Kulturgut für Obsteig wie die mechanische Turmuhr.
Was tun mit der Uhr und der Waage? Man kann natürlich pragmatisch sagen, das ist ein „altes Graffl“, das nichts bringt. Soll man deshalb alles abbauen oder doch der Nachwelt als wertvolles Kulturgut erhalten? Ich wäre für das Zweite, denn so vieles, dem man heute nachweint, ist schon zerstört worden.
Und es geht nicht zuletzt um die geschichtliche Identität des Dorfes.